Newsletter Nr 27 Winter 2019
Newsletter Nr 27
Liebe Interessierte, Freunde und Entpanzerte
In den letzten Wochen beschäftigt mich die Frage; wie erhalten und / oder erschaffen wir unter Menschen Verbindung und Wärme in einer stetig komplexeren und oftmals überwältigenden Welt nahezu unbegrenzter Möglichkeiten..
Ich stelle hier tief verankerte Glaubenssätze in Frage, die mit meinem Leben als moderner, aufgeklärter und entwicklungsbereiter Mensch zu tun haben. Ich bin und war immer eine Vertreterin der persönlichen "Selbst-Optimierung", Charakterverfeinerung und Weiterentwicklung. „Ich kann mich selbst meine Umstände verändern und meine Gegenwart und Zukunft in großen Teilen zum Besseren beeinflussen.“
Dieses Credo gibt mir die Motivation, sowohl für meine Arbeit, als auch für viele Bewegungen in meinem Privatleben. In diesem newsletter geht es mir darum, die weniger bewußten Motive für den inneren Drang zur Selbstoptimierung tiefer zu verstehen und in seinen Anteilen zu beleuchten.
Vor ein paar Tagen bin ich durch meine Tochter auf das Essay des Soziologen Hartmut Rosa „Unverfügbarkeit“ aus der Buchreihe Unruhe bewahren gestoßen. Rosa stellt darin faszinierende und zugleich beunruhigende Zusammenhänge her. Hier ein paar Zitate, in denen es um den Trend / Zwang zur Erweiterung der persönlichen und kollektiven Lebens- und Erfahrungswelt geht:
„ Das Alltagsleben durchschnittlicher spätmoderner Subjekte in den Zonen, die der sogenannten »entwickelten westlichen« Welt zugerechnet werden, konzentriert sich und erschöpft sich mehr und mehr in der Abarbeitung von explodierenden To-do-Listen, und die Einträge auf dieser Liste bilden die Aggressionspunkte, als die uns die Welt begegnet: der Einkauf, der Anruf bei der pflegebedürftigen Tante, der Arztbesuch, die Arbeit, die Geburtstagsfeier, der Yogakurs: erledigen, besorgen, wegschaffen, meistern, lösen, absolvieren.“
„Eine Gesellschaft ist modern, wenn sie sich nur dynamisch zu stabilisieren vermag, das heißt, wenn sie zur Aufrechterhaltung ihres institutionellen Status quo des stetigen (ökonomischen) Wachstums, der (technischen) Beschleunigung und der (kulturellen) Innovierung ( Erneuerung) bedarf,…..Wer deshalb behauptet, die Moderne werde vom Verlangen nach dem Höher, Schneller, Weiter, getrieben, verkennt ihre strukturelle Realität: Es ist nicht die Gier nach mehr, sondern die Angst vor dem Immer-weniger, die das Steigerungsspiel aufrechterhält. Es ist nie genug, nicht, weil wir unersättlich sind, sondern weil wir immer und überall wie auf Rolltreppen nach unten stehen: Wann und wo immer wir anhalten oder innehalten, verlieren wir an Grund gegenüber einer hochdynamischen Umwelt, mit der wir überall in Konkurrenz stehen. Es gibt keine Nischen oder Plateaus mehr, die es uns erlaubten, innezuhalten oder gar zu sagen: »Es ist genug.«“
Eine weitere Motivation für unser stetiges Streben nach "Mehr" hat, laut Hartmut Rosa mit der „Weltreichweite“ zu tun: wir alle wollen unsere Welt erweitern. Es ist ein urmenschlicher Trieb, die Welt zu entdecken und in Ihr Wirkung zu erzielen. Wir sehen das bei kleinen Kindern, wie sie ihren Aktionsradius stetig erweitern und sich - wenn alles gut läuft - mit Unschuld und Vertrauen in die Welt werfen. Für den modernen Menschen sind heute Dinge erreichbar, die noch vor 100 Jahren vollkommen utopisch anmuteten, wie die Flugreise in die Südsee, das eigene Auto, das Erlernen einer Sprache via Online Learning, die sofortige Kommunikation über tausende von Kilometern und Vieles mehr. Aber auch hier scheint der, mit der stetigen Selbstentwicklung und Optimierung der eigenen Umstände verbundene Erfüllungsstress, uns immer häufiger in die Krise, manchmal bis in den Burnout zu treiben. Im Phänomen des Burnout zeigt sich das Gegenteil der Weltreichweite nämlich der Weltverlust, wo die Welt „verstummt und erkaltet“ und nicht mehr zu uns zu sprechen scheint, weil wir der lebendigen Verbindung verlustig gegangen sind. Wir fühlen uns allein und verloren in einem nicht zu bewältigendem Meer der Verfügbarkeit.
Auf der Aussenseite der Dinge scheint also die Welt mit all Ihren materiellen und geistigen Schätze immer verfügbarer, d.h. nutzbarer, erreichbarer zu werden. Gleichzeitig ist über die wesentlichen Dinge des Lebens nach wie vor nicht auf diese Art zu verfügen: Liebe, Gesundheit, der Schnee an Weihnachten, die Fähigkeit zum Glück, zur Verbindung mit Anderen oder das Überwinden von Schmerz und Trauer beim Verlust geliebter Menschen: All das und nicht zuletzt auch die Lebenszeit, die uns gegeben ist, bleibt weiterhin umverfügbar und damit zumindest teilweise Geschenk und Gnade.
Ich möchte mir in den Rauh-tagen Zeit nehmen, um mit folgender Frage zu sitzen: was ist mir wirklich wichtig, wofür möchte ich Zeit und Energie einsetzen? Mein Massstab dafür könnte sein, dass ich mit entspannter Gelassenheit anwesend sein kann im Tun und mein Tempo wechseln darf mit den Jahreszeiten und entsprechend meiner aktuellen Lebensphase. Wie sähe das Leben aus, wenn mein Streben nicht an Status, Sollwerte oder die Angst vor der „Rolltreppe nach unten“ gekoppelt ist?
Wenn wir diese Frage beantworten, können wir - so glaube ich - der Erkaltung und dem Verstummen der Welt vorbeugen und ein Zusammenleben mit Mensch und Natur schaffen und erhalten, dass uns wärmt und nährt.
Ich wünsche uns allen gesegnete Weihnachten, ein ruhiges Herz und die Fähigkeit das Leben fühlend zu geniessen.
AM
Mein besonderes Angebot
Redezeit:
ich verschenke zwischen dem 7. Januar und Frühjahrsanfang am 21. März insgesamt 8 Stunden meiner Praxiszeit für Menschen mit Bedarf an Redezeit. In der Redezeit kann es um alles gehen in Bezug auf persönliche Fragen, Beratung in besonderen Lebensumständen, zeremonielle Fragen oder Orientierung für evtl. therapeutische Begleitung.
Termine nach Vereinbarung
Anfragen bitte per e-mail an lebenswege1posteode
Und zum Schluss die Literaturempfehlung für die Rauhzeit:
Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit
Das Buch ist kein „Schmöker“ sondern ein soziologisches Sachbuch.
Man braucht Spass an dichter Sprache und hier und da ein Lexikon für die Übersetzung des einen oder anderen Begriffs. ;-)
Davon abgesehen liefert Rosa eine spannende und sehr komplexe Sicht auf die Weltbeziehungen des modernen Menschen, die zum Nachdenken, Diskutieren und Reflektieren einlädt.
Bereichernd finde ich die interdisziplinären Verweise auf andere Autoren zur weiteren Lektüre am Ende jeden Kapitels.
Herzliche Grüße
Anke Mrosla