Newsletter Nr 34, Frühling 2022
Newsletter Nr 34
Liebe Interessierte, Freunde und Entpanzerte
Dieser Frühling naht mit wieder neuen Herausforderungen für den Einzelnen und für unsere Gesellschaft. Die Themen, die mich angesichts des Ukrainekrieges in diesen Tagen stark beschäftigen sind innere Klarheit und Vergebung.
Vor einigen Wochen hatte ich eine unerwartete Auseinandersetzung mit meinem Schwiegersohn. In einer abendlichen Diskussion und schon etwas müde geredet zum Thema Kriminalität im digitalen Zeitalter sagte ich sowas wie: „Die Leute, die sowas machen, sollte man doch erschiessen“, worauf hin mein Schwiegersohn erwiderte: „Das ist doch jetzt wohl nicht Dein Ernst oder? Willst Du jemand das Leben nehmen weil er andere bestiehlt, echt jetzt? Willst Du einem Menschen, der etwas Falsches tut, sein Lebensrecht absprechen?“
Es folgte noch ein recht hitziger Austausch, bei dem weitere Gesprächsteilnehmer versuchten, die Wogen zu glätten.
Es fiel mir sehr schwer, mich nicht gemassregelt zu fühlen und wir gingen an dem Abend mit gemischten Gefühlen auseinander. In einem Gespräch am nächsten Tag konnte ich dann von ihm hören, wie wichtig es ihm ist, ernst zu nehmen, dass man mit Aussagen wie : „Dafür sollte man diesen oder jenen erschiessen“ , beiläufig und gedankenlos Dinge ausspricht, die zu Ende gedacht, in keiner Weise unseren Werten entsprechen. Ich war bestürzt von der Wahrheit dieser Gedanken und konfrontiert mit mir selbst und meinem, unter meiner sprachlichen Entgleisung liegenden Glauben, an die Rechtfertigung von Rache und Vergeltung, die mir anhand dieser Begebenheit ins Bewusstsein kam.
Mir fielen die Situationen meines Lebens ein, in denen ich selbst Opfer von Gewalt und Unrecht geworden war und wie heiß mein Zorn über viele Jahre deswegen gebrannt hatte. Scheinbar war das nicht so weitgehend bereinigt, wie ich gedacht hatte. Um mich tiefer damit auseinanderzusetzen, habe ich in den letzten Wochen unter anderem ein Buch von Desmond und Mpho Tut zur Hand genommen.
Es ist das Buch des Vergebung und beschreibt den vierschrittigen Pfad, der im Rahmen der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission mitgeholfen hat, die Schrecken des Apartheidsregimes zu mildern und stellenweise zu heilen.
Und jetzt ist Krieg in Europa….
Seit dem 24. Februar wird auf dem Gebiet der Ukraine Krieg geführt. Russische Soldaten sind aus Belarus und aus Russland in die Ukraine gezogen und die russische Regierung befiehlt Bombardements auf Städte und Anlagen im Nachbarstaat. Die Menschen in der Ukraine erleben unglaubliches Leid. Viele Soldaten beider Seiten, die jetzt zum Kampf gezwungen sind leiden unter Angst, Verzweiflung und der Frage: „was mache ich hier, wie konnte das passieren?“ Über die Medien hören wir von der Verzweiflung der Menschen in der Ukraine , von ihrem Willen sich zu verteidigen und zu kämpfen, ebenso von dem Flüchtlingsstrom derjenigen die sich vor dem Krieg in Sicherheit zu bringen versuchen und dabei alles hinter sich lassen müssen.
Es ist leicht, jetzt den russischen Staatschef Putin als Verantwortlichen auszumachen für all die Leben, die aus ihrer Bahn gerissen werden und ihm „die Pest an den Hals zu wünschen“. Aber ist damit irgendjemand gedient?
Es scheint unvorstellbar, dass wir nun, wo gerade die vierte Generation nach dem 2. Weltkrieg in die Kindergärten kommt und damit die kriegsbedingte transgenerationale Traumatisierung langsam aus unserem körperlichen, emotionalen und spirituellen Erbgut zu verschwinden beginnt, plötzlich doch wieder mit Krieg in Europa konfrontiert sind.
Was können wir tun?
Ich komme in meiner eigenen Friedensforschung, in meinem Bemühen um die Fähigkeit zur Vergebung zunehmend darauf, wie wichtig es ist, immer den geschichtlichen Kontext mitzudenken. Kein Mensch wird zum Mörder ohne Grund, kein Land, keine Nation kann verstanden werden, wenn wir die Geschichte, die unendliche Kette von Leid, das wir uns gegenseitig seit Anbeginn der Geschichte zufügen, ausser Acht lassen.
Das menschliche Tier ist in seiner Biologie auf Kampf, Flucht und Selbsterhaltung programmiert. Gewalt und Aggression waren frühe Bedingungen für das Überleben und wurden erst nach und nach durch die sozialen Fähigkeiten des Kooperieren und Teilens ergänzt. Die Spirale von Gewalt beginnt zuerst unter einzelnen Menschen! Dies geschieht in der Regel durch eine Verkettung unglücklicher Umstände, durch Kummer, Gier, Missgunst oder Machtstreben und sie ist stets begleitet von ungenügender Kommunikation. Daraus können dann nach und nach,Konflikte und Fehden in Familien, Clans, Gemeinden, und Nationen erwachsen.
Letztlich gibt es keinen Menschen, keine Familie, keine Organisation, kein Land und keine Nation oder Kontinent, deren erlebte Geschichte von Unrecht, unaufgelöstem Schmerz und daraus resultierendem Wunsch nach Vergeltung nicht die Grundlage für die heutigen Konflikte bildet. Wie können wir also Vergebung für einzelne Taten der und jetzt gewähren, wenn wir nicht auch die Geschichte der Vergangenheit vergeben?
In Russland und der Ukraine ist da zB die Benachteiligung der russischstämmigen Mitbürger in der Ukraine, das Hungern von Mio. Ukrainern unter Stalin und der Statusverlust Russlands nach dem Ende der Sowjetunion zu nennen.
Es wäre großartig, wenn wir nach und nach in der Ausbildung der FührerInnen und Eliten unserer Länder bei deren Unterweisung auch eine vergebungsorientierte Menschlichkeit voraussetzen könnten. Noch ist das Zukunftsmusik. Dennoch, wir können bei uns selbst beginnen und anfangen, in der Betrachtung dieses aktuellen Krieges in allen Beteiligten weiterhin ihre Menschlichkeit zu sehen. Vielleicht können wir uns auch in unserem persönlichen Leben bemühen, die Menschen mit denen wir Konflikte haben, jenseits des aktuell Trennenden, weiterhin in ihrer Ganzheit, in ihrer Größe und Schönheit zu sehen. Wenn wir das in unserem persönlichen Umfeld üben, Vergebung mit allen notwendigen Zwischenschritten gewähren lernen, dann verändern wir vielleicht nach und nach die Welt.
Das ist es, woran ich mich ausrichte und was mir die Möglichkeit gibt, mich jenseits der unüberwindlich scheinenden Hindernisse in der Weltpolitik weiterhin als Handelnde zu fühlen. Das und die kleinen und großen Hilfsleistungen, die wir in unserem persönlichen Einflusskreis tun können, um die Lage ein bisschen besser zu machen, wie zB Flüchtlinge unterstützen, Geld spenden und der Möglichkeit des Friedens die Treue halten.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen fried- und freudvollen Frühling, in dem uns die Kraft zuwächst das Herz offen und den Geist wach zu halten. Dann werden wir tun was wir können um ein Teil der Lösung zu werden anstatt Opfer des Problems zu sein.
AM
Mein besonderes Angebot
Umgang mit Angst und Überforderung für Helfende, die mit Flüchtlingen und Opfern der Gewalt arbeiten.
3 x 2 kostenlose Stunden für Menschen, die diese Unterstützung brauchen können.
Termine nach Vereinbarung in der Zeit vom 14. April bis 20.Juni
Und hier die Literaturempfehlung dieses Frühjahrs:
Diesmal möchte ich gleich zwei Bücher empfehlen, die - simultan gelesen - ein multidimensionales Verständnis ermöglichen und uns vielleicht darin unterstützen, unsere eigene Menschlichkeit in einen politischen und geschichtlichen Kontext zu setzen. Möge es uns helfen mit Mitgefühl und Klarheit auf das menschliche Drama zu schauen.
"Das Buch der Vergebung" von Desmond und Mpho Tut
Hier werden persönliche Geschichten erzählt und der vierfache Pfad zur Vergebung als ein Weg zur Heilung und Neuausrichtung nach erlittenem oder miterlebtem Unrecht gelehrt. Vergebung heißt nicht Vergessen, es heißt nicht, keine Gerechtigkeit mehr zu verlangen. Es heißt in erster Linie den Weg zu gehen, der es ermöglicht ein gutes Leben danach zu leben.Vergebung macht uns gesünder, sie hilft uns aus traumabedingter Depression und macht es möglich, unser Leben nach schlimmen Erlebnissen wieder aufzunehmen.
Richard David Precht: "Jäger, Hirten, Kritiker"
In diesem Buch geht es nicht um Krieg oder Frieden, sondern um die Herausforderungen, die die digitale Revolution und das Verloren gehen der Arbeit für die modernen Gesellschaften darstellt. Ich finde es an dieser Stelle so passend, weil es den Hintergrund reflektiert, auf dem unser Leben heute stattfindet. Sinnsuche in einer sich stetig beschleunigenden Welt, die Angst abgehängt zu werden, all das spiegelt sich auch in den großen Bewegungen der Weltpolitik wider. Darum empfehlenswert und inspirierend.
Herzliche Grüße
Anke Mrosla